Eine Reise in die Vergangenheit: Literarische Orte in Tübingen

Tübingen ist den meisten bekannt als eine der ältesten Universitätsstädte Europas. Die kleine Stadt am Neckar ist berühmt für Stocherkähne, gute Falafel, seinen alljährlichen Schokomarkt oder auch für Boris Palmer. Doch wusstest du, dass Tübingen auch in literarischer Hinsicht einiges zu bieten hat? Von Hölderlin, Hauff, van Hoddis über Goethe und Hesse bis Härtling: Viele der bedeutendsten Lyriker haben in dem idyllischen schwäbischen Städtchen gewirkt und von dort aus die deutsche Literaturgeschichte maßgeblich mitgestaltet. In diesem Artikel erfährst du mehr über Tübingen als Literaturmetropole!

Die Gründung der Universität hängt eng mit der Entwicklung Tübingens als kulturelles Zentrum zusammen. Als 1477 die Universität Tübingen und 1536 schließlich das Evangelische Stift gegründet wurde, entwickelte sich die zuvor eher unbedeutende Stadt plötzlich zum Anlaufpunkt für unzählige aufstrebende Geistesgrößen. Hegel, Hölderlin, Schelling und Kepler studierten im Stift, Goethe und Schiller logierten bei ihrem Verleger Cotta in der Münzgasse, Hesse machte eine Ausbildung am Holzmarkt, der Mediziner Friedrich Miescher entdeckte in Tübingen die Nukleinsäure und der Psychiater und Neuropathologe Alois Alzheimer beschrieb hier 1906 auf einer Fachtagung erstmalig die nach ihm benannte Demenzerkrankung. Auch Professoren von europäischem Rang kamen nach Tübingen, um an der Universität zu lehren. Zu den berühmten Tübinger Professoren gehören unter anderem der Dichter Ludwig Uhland, der Philosoph Ernst Bloch, der emeritierte Papst Joseph Ratzinger oder die Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard.

In Tübingen gibt es also seit der Universitätsgründung im späten 15. Jahrhundert ein florierendes künstlerisches und geistiges Leben, wobei es vor allem viele Literaten waren, die sich in Tübingen niederließen. In der Stadt sind die Spuren der Schriftsteller und Schriftstellerinnen immer noch sichtbar. Die Stadt Tübingen ist sehr darum bemüht, ihr literarisches Erbe zu bewahren. In Tübingen lässt sich Literaturgeschichte auf dichtestem Raum erwandern. Komm mit auf einen Spaziergang durch das mittelalterliche Städtchen und mache dich bereit auf eine Reise in die Vergangenheit!

Literarische Orte

Friedrich Hölderlin ist der wohl bekannteste Lyriker Tübingens. Sein Name ist unmittelbar mit der Stadt verbunden. Ein Denkmal Hölderlins im Alten Botanischen Garten erinnert an seinen berühmten Bewohner.

Am Tübinger Stift studierte er auf den Wunsch seiner Mutter hin Theologie. Das Studium machte ihm jedoch keinen Spaß, denn seine Berufung war eine ganz andere: das Dichten. Doch dieser Beruf war unsicher und gesellschaftlich nicht anerkannt – es sei denn man war extrem erfolgreich. Und der Erfolg blieb bei Hölderlin fast ein Leben lang aus. Während des Studiums, wo unter anderem der Dichter und Philosoph Karl Phillip Conz zu seinen Lehrern zählte, schloss Hölderlin jedoch bedeutende Freundschaften mit Georg Wilhelm Friedrich Schlegel und Friedrich Schelling, die ihm wichtige künstlerische Impulse gaben.

Nach dem Studium verließ Hölderlin zunächst Tübingen und arbeitete als Hauslehrer, bis er schließlich nach Aufenthalten in Waltershausen, Jena, Nürtingen, Frankfurt, Homburg, Stuttgart und Bordeaux mehr oder weniger unfreiwillig zurückkehrte. Gewaltsam wurde er in das Universitätsklinikum Tübingen geschafft, nachdem er von mehreren Zeitgenossen als wahnsinnig beschrieben worden war. Fast ein Jahr lang verbrachte der scheinbar irre gewordene Hölderlin in dem von Johann Heinrich Ferdinand Autenrieth geleiteten Klinikum und wurde einer für damalige Verhältnisse fortschrittlichen Zwangsbehandlung unterzogen. Trotzdem muss die Therapie wohl traumatisierend gewesen sein. Schließlich wurde Hölderlin als „unheilbar“ entlassen und kam zur Pflege zu dem Schreiner und Hyperion-Bewunderer Ernst Zimmer, bei dem er den Rest seines Lebens, 36 Jahre, in einem Turmzimmer verbrachte. Der Blick auf den Neckar inspirierte ihn auch in den späten Jahren bis zu seinem Tod noch zu Gedichten, wie seinen berühmten „Turmgedichten“. Bis heute ist jedoch nicht klar, ob der Dichter tatsächlich wahnsinnig war.

Der Hölderlinturm ©Constanze Baumann

Der Mythos um den wahnsinnig gewordenen Dichter, der die Hälfte seines Lebens in einem kleinen Zimmer ausharren musste, fasziniert jedoch seitdem das deutsche Publikum. Vom Dichter Paul Celan über den Maler Alfred Hrdlicka bis hin zum Komponisten Luigi Nono: Der Hölderlinturm ist eine Attraktion, der Besucher aus der ganzen Welt anlockt. Das Museum, welches 2017 bis 2020 renoviert wurde, befindet sich zwar nicht in dem originalen Turm, denn dieser brannte bereits 1875 ab, jedoch in einem authentischen Neubau an derselben Stelle des alten Turms. Der Eintritt ist kostenlos und lohnt sich sehr! Auch schon zu Lebzeiten wurde Hölderlin von mehreren Berühmtheiten in seinem Turm besucht, so zum Beispiel von Mörike, der keinen weiten Weg zu ihm hatte, da er selbst in der Neckargasse 22 lebte. Auch die „Schwäbische Dichterschule“ um Justinus Kerner und Ludwig Uhland besuchte den alten Hölderlin. Sie trafen sich regelmäßig im Martinianum in der Münzgasse und legten mit ihren Treffen den Grundstein für die Schwäbische Romantik.

Das Klinikum, in dem Hölderlin von Autenrieth behandelt wurde, ist nur ein paar Schritte weiter und befindet sich in der Alten Burse. Heutzutage beherbergt es kein Krankenhaus mehr, sondern das Philosophische Seminar der Universität. In der Burse, in der Hölderlin behandelt wurde, wirkte 300 Jahre zuvor der Reformator Philipp Melanchthon.

Die Burse ©Constanze Baumann

Ebenfalls nicht weit weg, ist auch das Tübinger Stift, in dem Hölderlin studiert und gewohnt hat! Andere berühmte Bewohner des Stifts sind Phillipp Nicodemus Frischlin, Johannes Kepler, Rudolf Friedrich Heinrich Magenau, Christian Ludwig Neuffer, Friedrich Schelling, Wilhelm Hauff, Eduard Mörike und Georg Herwegh.

Folge mir nun ins Herz der Stadt, zur Stiftskirche! Beim Antiquariat Heckenhauer, am Holzmarkt, begann der damals 18jährige Hermann Hesse seine Lehre als Buchhändler. Die Lehre und sein damit verbundener dreijähriger Aufenthalt in Tübingen brachten wieder Stabilität in das unstete Leben des Jugendlichen. Er hatte einen Suizidversuch hinter sich und einen Aufenthalt in einer Nervenheilanstalt. Die Buchhändlerlehre brachte wieder Struktur in sein Leben und Hesse begann sich intensiv der Literatur zu widmen und die Werke anderer berühmter Autoren zu studieren . Am Ende seiner Lehrzeit veröffentlichte Hesse seine ersten eigenen Gedichte, die „Romantischen Lieder“, und legte damit den Grundstein für seinen späteren Weltruhm. Die Zeit in Tübingen war also essentiell in Hesses Lebenslauf als eine stabilisierende Phase.

Im Hesse-Kabinett, in dem Hesse seine Lehre machte, können Besucher*innen heute die literarischen Wurzeln des berühmten Schriftstellers erkunden. Das Antiquariat mit seinen unzähligen verstaubten Büchern ist noch original erhalten. Läuft man ein bisschen weiter in die Weststadt, dann stößt man dort auch auf das Haus, in dem Hesse während seiner Ausbildung gelebt hat. Es befindet sich in der Herrenbergerstraße 28.

Das evangelische Stift ©Constanze Baumann

Ebenfalls in der Altstadt ist das Cotta-Haus, in dem Johann Friedrich Cotta, der Verleger Goethes und Schillers, wohnte. Goethe kam zweimal in die Universitätsstadt. Das erste Mal 1797, vom 7. bis zum 16. September. Er war auf der Durchreise in die Schweiz und übernachtete bei seinem Verleger. Obwohl Goethe von Tübingen nicht sonderlich begeistert war, beeindruckte ihn die Stiftskirche mit ihren außerordentlichen Glasfenstern sehr. Seinen Besuch nutze er außerdem um, ein bestimmtes Buch in der Universitätsbibliothek, die sich damals noch in der Alten Aula neben Cottas Haus befand, einzusehen, welches er in Weimar nicht bekommen konnte (De radiis visus et lucis in vitris perspectivis et iride von Marco Antonio de Dominis). Das Exemplar, das Goethe damals benutzte, ist heute noch vorhanden. Die Legende besagt, dass der Tintenklecks auf Seite 8 von ihm verursacht wurde. Während seinem ersten Aufenthalt machte Goethe zusammen mit seinem Verleger Cotta und dem Apotheker Gmelin einen Spaziergang auf dem Schlossberg und verbrachte dort einen Nachmittag in einem kleinen achteckigen Gartenhäuschen, dem sogenannten Goethe-Häsuschen. Das zweite Mal weilte Goethe zwischen dem 29. Oktober und dem 1. November 1797 in Tübingen. Über diesen Aufenthalt ist jedoch nicht viel bekannt.

Das Goethe Häuschen ©Constanze Baumann
Das Hesse Kabinett ©Constanze Baumann

Ein weiterer berühmter Schriftsteller, der sich in Tübingen aufhielt, war der expressionistische Schriftsteller Jakob van Hoddis, der 1922 nach Tübingen kam und hier bei einer Familie in Pflege wohnte, zunächst in der Wilhelmstraße 25, dann in der Sofienstraße 2. Am 15. Juni 1927 eskalierte ein Streit mit seinem Nachbarn, und man wies ihn in die Universitätsklinik Tübingen ein. Von dort wurde er schließlich nach Göppingen verlegt, wo er sechs Jahre blieb.

Der Berfriedhof ©Constanze Baumann

Tübinger Friedhöfe

 

 

Weiter geht’s auf die Tübinger Friedhöfe! Auf dem Tübinger Stadtfriedhof, der übrigens einer von elf Friedhöfen in Tübingen ist, befinden sich die Gräber der zahlreichen Tübinger Persönlichkeiten. Man könnte sagen, dass er der „Père Lachaise“ von Tübingen ist. Zum Beispiel befindet sich dort das Grab des Arztes Autenrieth und das von Hölderlin. Außerdem liegen dort Größen, wie der Dichter Ludwig Uhland oder der Dichterin Ottilie Wildermuth. Übrigens gibt es auch von Ottilie Wildermuth, eine der meistgelesenen Autorinnen des 19. Jahrhunderts, ein Denkmal auf der Neckarinsel. Die Gräber der berühmten Personen auf dem Friedhof sind gut ausgeschildert. Am Eingang gibt es zudem Pläne, in dem die Gräber eingezeichnet sind. Es ist daher nicht besonders schwer, diese zu finden. Ein Spaziergang auf dem Friedhof lohnt sich sehr und lässt sich zum Beispiel gut zwischen ein paar Vorlesungen einbauen. Er befindet sich nämlich unmittelbar hinter dem Kupferbau.

Ein weiterer Friedhof, den es sich lohnt zu besichtigen, ist der Bergfriedhof auf dem Galgenberg im Süden der Stadt. Dieser ist um einiges größer, als der Stadtfriedhof und entzückt durch seine Lage am Berg mitten in der Natur. Dort empfiehlt es sich vor allem wegen dem Grab des berühmten marxistischen Philosophen Ernst Bloch hinzugehen. Er starb 1977 in Tübingen in der heute nach ihm benannten Ernst-Bloch-Straße 35.

 
 

Weiterführende Tipps

 

Wenn du dich noch weiter mit der literarischen Geschichte Tübingens auseinandersetzen willst, dann ist es sehr hilfreich, sich eine Broschüre der Stadt Tübingen zu holen. Dort sind alle 41 literarischen Orte aufgelistet und in einer Karte eingezeichnet.

Außerdem bietet das Hölderlinmuseum einen kostenlosen Audioguide an, mit dem man durch die Stadt gehen und alle literarischen Orte erkunden kann. Im Appstore gibt es auch alternativ eine kostenlose App „Literaturpfad Tübingen“, die den Audioguide auf deinem Handy ersetzt. Für die richtigen Literaturfans kann ich das Buch von Andreas Rumler „Literarische Spaziergänge durch Tübingen. Auf den Spuren von Hölderlin bis Härtling“ empfehlen.

Literarische Spaziergänge durch Tübingen von Andreas Rumler ©Constanze Baumann

von Constanze Baumann

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